LAUDATIO

 

 

Studienrätin JANSEN (hat zwei Blätter in der Hand und hält Oberstudienrat Schreiber auf) :

Komisch: Hatten Sie mir nicht gesagt, dass Sie die Rede für die Verabschiedung unseres langjährigen Kollegen Wildmeister schreiben wollten? Sie wissen ja, dass ich ab diesem Jahr den Jahresbericht mache. Und dafür hat mir jetzt aber der Chef hier eine Art Laudatio über den Wildmeister gegeben, weil der Text da unbedingt noch rein soll.

 

OStR SCHREIBER:

Das stimmt schon so. Der Text stammt von mir, aber die Schulleitung wollte ihn vorher nur kurz einmal sehen und überlegen, ob irgendwelche Kürzungen oder andere Änderungen nötig sind. Wie bei den Abiturienten halt auch. Aber ich habe so an den einzelnen Sätzen herum gefeilt, dass es eigentlich passen müsste und ich den Text schon fast auswendig kann.

 

StRin JANSEN:

Wie bei den Abiturienten?

 

OStR SCHREIBER:

Na ja, für jeden der Schüler schreiben doch jeweils ausgewählte Lieblingslehrer Kurzcharakteristiken, die dann alle vom Chef vor der Überreichung der Zeugnisse vorgelesen werden. Und die bearbeitet er dann vorher halt manchmal ein bisschen.

 

StRin JANSEN (irritiert) :

Der Chef vergreift sich an den Texten der Lehrkräfte? Das ist ja Zensur!

 

OStR SCHREIBER (beschwichtigend) :

Nun steigern Sie sich da mal nicht rein, Frau Kollegin. Er sagt halt, dass die Texte oft zu lang sind und gekürzt werden müssen, damit sich die Veranstaltung nicht ewig hin zieht. Und da hat er mit Sicherheit Recht. Bei manchen Texten wundert man sich doch wirklich, dass den Kollegen nichts Peppigeres eingefallen ist. Das darf man also alles nicht so eng sehen, wenn der Chef da das Wesentliche herausarbeitet und die Nebensächlichkeiten ignoriert.

 

StRin JANSEN:

Also ich finde das sehr bedenklich, wenn die Texte anderer nicht im Original wiedergegeben werden, vielleicht sogar noch ohne Rücksprache mit dem Verfasser!

 

OStR SCHREIBER (lässt den erfahrenen Kollegen heraushängen) :

Nun machen Sie sich mal nicht ins Hemd. Wir reden hier doch nicht über die Bibel. Schließlich wird der Sinn ja nicht verändert, wenn der Chef mal ein paar Worte weglässt oder ersetzt. Seien Sie doch einfach locker.

 

StRin JANSEN (nicht überzeugt) :

Gut, dann hat ja alles seine Richtigkeit.

Dann soll da wohl auch wirklich drin stehen, dass der Wildmeister dick ist - er gehört ja wirklich nicht gerade zu den Schlanksten. Und das mit den Tagen -

 

OStR SCHREIBER:

Moment mal: Was soll ich geschrieben haben?

 

StRin JANSEN:

Er ist dick.“

 

OStR SCHREIBER:

Zeigen Sie mal her.

(Sie schauen die Seiten gemeinsam an)

Das ist allerdings nicht ganz korrekt. Ich hatte lediglich geschrieben, dass der Wildmeister in vielerlei Hinsicht dick im Geschäft war.

 

StRin JANSEN:

Dick im Geschäft“ - „dick“: Da hat der Chef halt ein paar Worte weggelassen...

 

OStR SCHREIBER (liest weiter) :

Viele Kolleginnen verdankten ihm ihre Tage.“ Wie bitte?

 

StRin JANSEN (belustigt) :

An der Stelle hatte ich auch überlegt. Wie genau hatten Sie das denn gemeint?

 

OStR SCHREIBER:

Das muss doch heißen: „Viele Kollegen und Kolleginnen verdankten ihm z.B. die erfolgreiche Durchführung bzw. den gelungenen Ablauf der Schulgottesdienste, des Jahresberichts, der Fachbetreuung, von Colloquiumsprüfungen, von Konzertmoderationen oder ihrer Projekttage.“

 

StRin JANSEN:

Das wäre aber wirklich zu lang geworden, da muss ich dem Chef schon zustimmen...

Den nächsten Punkt hat er aber doch eins zu eins übernommen, oder?All die schulischen Aufgaben, die er übernehmen sollte, vernachlässigte er. Auch seine Qualitäten als Familienvater waren umstritten.“

 

OStR SCHREIBER (wird zunehmend bleicher)

Nein nein! „Über all den schulischen Aufgaben, die er übernehmen soll und jeweils zur vollsten Zufriedenheit erledigt, vernachlässigt er darüber keinesfalls seine Frau und Kinder, denn auch seine Qualitäten als Familienvater sind unbestritten.“

 

StRin JANSEN:

Da klingt die Version des Chefs allerdings dann doch etwas peppiger, finde ich.

Aber das mit den Präsenzen stammt schon von Ihnen, oder?

 

OStR SCHREIBER:

Präsenzen? Meinen Sie: „Als Germanist drückt er sich bisweilen recht gewählt aus und überzeugt vor allem durch seine Autorität und Präsenz?“

 

StRin JANSEN:

So ungefähr. „Er drückt sich vor Präsenzen“ heißt es hier.

Direkt vor dem Satz: „Perverse Hobbies sind sein Ding.“

 

OStR SCHREIBER (zunehmend schockiert) :

Was? Was steht hier?

 

StRin JANSEN (heuchlerisch) :

Hat der Chef da etwa wieder eine Kleinigkeit verändert?

 

OStR SCHREIBER:

Perfekte Dramen, Romane oder Verse sind sein Hobby, Mittelmäßigkeit ist nicht sein Ding!“

 

StRin JANSEN:

Aber so würde der Übergang zum nächsten Punkt nicht so richtig stimmen.

Er vergreift sich an unzähligen Schülerinnen, die seine Standfestigkeit bewundern. Von der ersten Stunde an -“

 

OStR SCHREIBER:

Das darf ja nicht wahr sein! „Er vergreift sich nie im Ton und hat sein Wissen schon an unzählige SchülerInnen weitergegeben, die seine moralische Standfestigkeit bewundern,“ hatte ich geschrieben.

Und dann kommt, wie Sie schon gesagt haben: „Von der ersten Stunde an schon bis zum Abitur ist er auf der Seite der Schüler und steht voll und ganz hinter ihnen.

 

StRin JANSEN:

Genauso habe ich das aber nicht gesagt. Hier steht jedenfalls: „Von der ersten Stunde an ist er schon voll.“

 

OStR SCHREIBER:

Was?

 

StRin JANSEN:

Aber das mit den Hosen finde ich eigentlich noch schlimmer.

 

OStR SCHREIBER (entgeistert) :

Voll? Hosen? Wieso? Ich habe doch nur sein Interesse an aktuellen Stilrichtungen betont: „Wildmeister ließ immer moderne Medien und Künstler in seinen Unterricht einfließen: Selbst YouTube-Videos mit Tokyo Hotel oder den Toten Hosen sind darunter.“ Das soll doch nur zeigen, dass er am Puls der Zeit ist!

 

StRin JANSEN:

Das muss man wohl einfach locker sehen. Hier heißt es jedenfalls: „Wildmeister lässt die Hosen runter und -

 

OStR SCHREIBER:

Das kann nicht sein!

 

StRin JANSEN (liest ungerührt weiter) :

- und führt sich auf wie ein Irrer.“

 

OStR SCHREIBER:

Ich fasse es nicht! „Er führt die Schüler auf die höchsten geistigen Höhen, wie ein treuer Sherpa, ohne dass sie sich auf ihrem steilen Weg verirren.“ Das und nichts anderes habe ich geschrieben. Und: „Er propagiert in seinem Unterricht auf eindrucksvolle Weise Grundwerte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und christliche Nächstenliebe.“

 

StRin JANSEN:

Das kommt hier ja auch gleich, mehr oder weniger jedenfalls: „Er propagiert freie Liebe.

 

OStR SCHREIBER (stöhnt auf) :

 

StRin JANSEN:

Und das passt ja auch zum nächsten Absatz.

 

OStR SCHREIBER:

Der nächste Absatz? Der heißt doch, warten Sie mal: „Er schätzt es, wenn alle seine Schüler und Schülerinnen spätestens ab Oktober fleißig und artig ihre Aufgaben erledigen, seien sie theoretischer oder praktischer Natur.“ Da kann man doch nichts dagegen sagen...

 

StRin JANSEN:

Der Chef hat ja auch nur das Wesentliche herausgearbeitet und die Nebensächlichkeiten weggelassen: „Er schätzt abartige Praktiken und es verschafft ihm enorme Befriedigung, auch die unwilligsten Schülerinnen durchzupeitschen.“

 

OStR SCHREIBER:

Wenn das der Wildmeister zu Gesicht kriegt! „So verschafft es ihm enorme pädagogische Befriedigung, auch die unwilligsten und lethargischsten Schüler und Schülerinnen durch das Abitur zu peitschen,“ hatte ich doch formuliert! Und: „Bei ihm kann man sich jederzeit guten Gewissens auf seinen Einsatz, sein Engagement und seinen wachen Geist verlassen.“

 

StRin JANSEN:

Hier wenigstens bleibt der Chef doch recht nahe am Original, oder? „Studiendirektor Wildmeister ist von allen guten Geistern verlassen.“

 

OStR SCHREIBER (schüttelt resigniert den Kopf) :

Und mein Abschlusssatz? „Ohne jemanden wie ihn wäre die Schule jedenfalls ärmer gewesen und viele Aktivitäten wären nur ein Traum geblieben.

 

StRin JANSEN:

Auch nur marginale Änderungen: „Ohne ihn wäre die Schule jedenfalls ein Traum.“

 

OStR SCHREIBER (murmelt fassungslos) :

Der Wildmeister bringt mich um. Der Wildmeister bringt mich um.

 

StRin JANSEN (sarkastisch) :

Alles in allem muss ich sagen: Der Chef und Sie haben gute Teamarbeit geleistet: Kurz, prägnant, peppig, das Wichtige hervorgehoben, alles nicht so langweilig wie die meisten anderen Artikel – da muss ich jetzt wenigstens keine Änderungen mehr vornehmen und kann den Text genauso im Jahresbericht verwenden. Super.

 

OStR SCHREIBER (rappelt sich wieder auf) :

Moment! Da wäre ich an Ihrer Stelle aber vorsichtig. Sie sind schließlich nicht nur verantwortlich für das Layout, sondern auch für den Inhalt. Und wenn sich der Wildmeister beschweren sollte, wird der Chef jedwede Einflussnahme kategorisch leugnen. Das heißt, alles fällt auf Sie zurück.

 

StRin JANSEN (stutzt)

 

OStR SCHREIBER:

Heuer steht ja auch noch die Beurteilung an. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?

Mein lieber Scholli, da möchte ich jetzt nicht in Ihrer Haut stecken!

(geht ab und lässt StRin JANSEN verunsichert stehen)